Enno Anders fühlt und denkt anders. Der Ich-Erzähler dieses psychologischen Kinderromans lässt uns unmittelbar miterleben, was es bedeuten kann, sich tagtäglich vieles mehr zu Herzen gehen zu lassen, als andere. Die Kritik von Andrea Kromoser.
Sein Opi war ein ideenreicher Erfinder, Enno vermisst ihn bis heute. Denn so wie damals der Grossvater, fühlt sich auch sein Enkel heute oftmals völlig unverstanden: Ebenso wie seine Lehrerin beginnt jetzt auch noch Ennos Mutter die Geduld mit ihm zu verlieren. Und obwohl der Vater standhaft für Enno eintritt, ist von Seiten der erwachsenen Figuren nicht viel Gutes zu erwarten. Allen wesentlichsten Bezugspersonen mangelt es an Einfühlungsvermögen und Gelassenheit. Vor allem aber fehlt ihnen das Bewusstsein bzw. der Glaube daran, dass Enno gut ist, so wie er ist. Und dass er seinen Weg finden und gehen wird. Stattdessen sieht sich Enno, der später eingeschult wurde und auch schon ein Schuljahr wiederholt hat, mit den unterschiedlichsten Diagnosen konfrontiert. Heimlich belauscht er seine Eltern, als diese über einen Brief der Lehrerin und das darin enthaltene Wort „Entwicklungsdefizit“ sprechen: „‘Ein Defizit bezeichnet einen Mangel oder den Zustand eines Mangels‘, habe ich im Wörterbuch nachgeschlagen. Bei mir mangelt es also an Entwicklung, und deswegen soll meine Entwicklung an einer Förderschule gefördert werden.“ – Enno findet, wie für alle anderen Fragen des Lebens auch, für sich selbst die richtigen Worte. Denn Enno ist ein guter Beobachter und ein einfallsreicher Erzähler.
Grosser Geschichtenerzähler
Was für die Figuren bis zum Ende des Romans beinahe völlig unbemerkt bleibt, ist für die Lesenden hingegen sehr rasch klar: Hier erzählt jemand mit grossem Sprachtalent! Astrid Frank hat für ihre Geschichte die Form der Ich-Erzählung gewählt, lässt Enno selbst detailliert und emotional berichten, Wichtiges wiederholen. Zusätzlich werden in den Text immer wieder auch jene persönlichen, selbst niedergeschriebenen Phantasiegeschichten Ennos eingewoben, in denen er sich als Einwohner des weit entfernten Planeten Mamojusave stilisiert. In diesen authentisch formulierten Texteilen ist Ennos Orthografie, mit allen Tipp- und Rechtschreibfehlern, belassen – sie werden orangefarben hervorgehoben. Die Illustratorin Regina Kehn bedient sich ebenso des Orangenen als phantasiebringender Farbe. Ihre Bilder verleihen dem gesamten Roman zusätzliche Tiefe, indem in den Illustrationen die orangefarbenen Phantasiemomente jenen aus der schwarz-weiss gemalten Realität der Erzählung direkt gegenüberstehen.
Anders ist auch normal
Mit dem Vergleich des Ausserirdischen verdeutlicht Enno, wie wenig er sich selbst als Teil der „normalen“ Alltagswelt sieht. Immer wieder erzählt er über seine tiefe Traurigkeit und den grossen Schmerz. „Es tut mir weh zu sehen, dass ich meine Mama so traurig mache, nur dadurch, dass ich so bin, wie ich bin. Und ich würde alles tun, um das zu ändern. Wenn ich nur wüsste wie.“ Schade ist, dass die Tests eines fachkundigen Psychologen sowie Ennos eigene Überzeugungskraft nicht ausreichen, um die Mutter dazu zu bringen, endlich auch gegenüber der Lehrerin für ihren Sohn einzustehen. Mit Hilfe seines besten Freundes gelingt es Enno, seine Geschichten bei einem Wettbewerb einzureichen, was eine Publikation in einem Kinderbuchverlag zur Folge hat. Erst jetzt wird Ennos „Andersartigkeit“ auch von Seiten der Eltern akzeptiert. Enno muss erst publikumswirksam beweisen, was in ihm steckt. Der Vater bleibt, trotz standhafter Fürsprache, zu passiv und über viele Episoden des Romas hinweg fast nur in den Streitgesprächen der Eltern präsent.
Insgesamt klingt in „Enno Anders“ ein moralisierender Tonfall mit, der die einfallsreiche sowie witzige phantastische Ebene aus den Geschichten des Ich-Erzählers übertönt. Nichts desto trotz bleibt es den gesamten Text hindurch spannend, den wortgewandten sowie sensiblen Enno inmitten seiner Welt zu begleiten, durch seine Augen Erwachsene zu „durchschauen“, aber auch die Verzweiflung mit ihm zu spüren und zu erleben, wie Freundschaft Grosses bewirken kann.
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